ZurĂŒck von einer langen Reise wird man oft gefragt: Wie warâs? Dann seufzend: Ach ja, das wĂŒrde ich auch gerne machen aber ich habe nicht soviel Zeit (wie Du) âŠ
Der GrĂŒnder des Sierra Club, John Muir (1838 â 1914), beschrieb solche Leute als âthe time-poor peopleâ â people who were so obsessed with tending their material wealth and social standing that they couldnât spare the time to truly experience âŠ
Wir können Geld, Materie, Energie anhĂ€ufen, sparen und gezielt einsetzen. Allein die Zeit entzieht sich und geht dahin. Sie ist eine Ressource, die durch nichts ersetzt werden kann. Lebenszeit gibt es nur einmal. Zeitverschwendung sei die einzige TodsĂŒnde, soll Goethe gesagt haben.
Daran, wie Lebenszeit fĂŒr etwas eingesetzt wird, zeigen sich Wertvorstellungen eindeutig.
Der globale Flaneur gönnt sich die MuĂe, zu verweilen, und weil der Anblick so schön ist, lĂ€Ăt er die Welt passieren. Reisen wird zum Mantra von AufbrĂŒchen und AnkĂŒnften, im ganz eigenen Rhythmus. MuĂe ist eine Zeit, die man dem Dasein widmet, kreativ, selbstbestimmt, in der man das Eigene tut.
âIch bin, was ich tueâ,
meint auch Reinhold Messner. Reisen bilden im Lebenslauf temporĂ€re autonome Zonen, in denen wir unser Leben in einem besonderen MaĂe selbst bestimmen und verantworten und den Anteil an fremdbestimmter Zeit minimieren. Reisende wie wir suchen bei jedem Aufbruch einen Ausweg aus dieser selbstverschuldeten Unfreiheit, sind selbstreisend und handeln frei.
Erstrebenswert? Klar! Dennoch: Wer zugibt, zuviel Zeit zu haben, disqualifiziert sich selbst und scheidet aus der Gesellschaft derer, die etwas leisten, die etwas fordern, etwas erhalten können, aus. Weltreisende kennen dieses Stigma. Sie schaffen sich eine Situation, in der sie niemanden zu fragen brauchen. UnbĂ€ndige Reiselust und wilde Freude am Unterwegs-Sein zu empfinden, ist das Privileg einer Minderheit, wird jedoch von der Mehrheit kritisch oder neidisch beĂ€ugt. Sie trĂ€umt von Reisen und Abenteuern, Weltreisende leben sie. Sie haben gelernt, Ziele zu erreichen, die ent-rĂŒckt sind, aber eben auch, weil sie ver-rĂŒckt sind. In jedem Fall weg-fĂŒhrend ist der Moment des Aufbruchs, denn
âwer nie geht, kehrt nie heimâ.
FĂŒr viele Reisende mĂŒndet solch ein selbstbestimmtes Reisen in einem vollstĂ€ndigeren BewuĂtsein der eigenen IdentitĂ€t.
**********
Somit können wir unsere Hauptmotivatoren wie folgt zusammenfassen:
- Erlangung eines vollstĂ€ndigeren BewuĂtseins der eigenen IdentitĂ€t
- Minimierung fremdbestimmter Zeit
- Lebenszeit angepasst an den eigenen Wertvorstellungen und WĂŒnschen verbringen
**********
Zum Thema eigene IdentitÀt hier noch ein paar persönliche Worte:
Mich zeichnet aus, dass ich sehr offen bin und immer das Positive aus Situationen rausziehe, egal wie unkomfortabel es auch sein mag. Allerdings denke ich, dass ich schon immer so war und das Reisen diese Seite an mir, diesen Teil meines Selbst, vor allem verstĂ€rkt. Was Luxus und Bequemlichkeit angeht, bin ich von Grund auf ein Mensch, der nicht viel zum Leben braucht. DiesbezĂŒglich sind meine AnsprĂŒche nicht sonderlich hoch. Das Nomadenleben mag nichts fĂŒr Menschen sein, denen BestĂ€ndigkeit und ein gewisser Komfort wichtig ist. Das ist auch okay. FĂŒr mich persönlich jedoch ist BestĂ€ndigkeit und Komfort nicht wichtig. Neue Reize, Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen hingegen sehr wohl.
Durch meine vielen Reisen sehe ich die Welt mittlerweile mit anderen Augen, kann Dinge besser beurteilen und weiĂ, wer ich bin, was ich will und was fĂŒr mich eine PrioritĂ€t hat.
**********
âDie gefĂ€hrlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.â (Alexander von Humboldt)
In den letzten Wochen vor unserer Reise haben viele zu uns gesagt: âMensch, seid ihr mutig, dass ihr ohne groĂen Plan in die Welt rauszieht?â Doch ist das wirklich mutig? Ist es mutig aus dem gewohnten System auszubrechen und das zu tun, was einem wichtig ist?
Noch bevor wir ĂŒberhaupt abgereist sind wurden wir mit haufenweise Fragen gelöchert wie âWie geht euer Leben in Deutschland nach eurer RĂŒckkehr weiter?â âKönnt ihr in eurer alten Firma wieder anfangen?â âOder habt ihr schon eine neue Arbeitsstelle?â âWie? Ihr seid dann erstmal arbeitslos?â âNa, irgendwann mĂŒsst ihr wieder zurĂŒck in euer altes Leben!â âDer Alltag wird euch schon noch einholen!â
Ist das nicht krass? Ganz bestimmt!
**********
Kulturschock!
Nur zu gut kann ich mich daran erinnern, wie es mir ging und erging, als ich 2014 nach Deutschland zurĂŒckkehrte.
Ich wusste, eine RĂŒckkehr zurĂŒck nach Deutschland wird nicht leicht werden. Ich hatte viel darĂŒber gelesen, doch so richtig konnte ich es mir vorher nicht vorstellen. Selbst beim Check-in meines letzten Fluges von Madras/Indien war es noch so surreal, dass ich meine Gedanken nicht einen Augenblick damit verschwendete. Erst als das animierte Flugzeug auf der Anzeigetafel von Emirates ĂŒber dem Wort Frankfurt kreiste, traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht.
Seitdem springe ich die darauf folgenden fast 10 Jahre gefĂŒhlt tĂ€glich von A nach B. Termine dort. Absprachen da. Und es fehlt hier auch noch ein Formular⊠âSie haben keine Handynummer in Deutschland???â âIch bin gestern erst in Deutschland gelandet.. ich war einige Monate aufâŠâ âBei Gelegenheit umgehend nachreichen!â Danke fĂŒr das Interesse auch â Herzlich Willkommen zurĂŒck in der deutschen BĂŒrokratie!
Ich war nach meiner RĂŒckkehr schockiert, wie ungeduldig, schlecht gelaunt, permanent unzufrieden und vor allem distanziert hier in Deutschland viele waren. Jeder fragte, wie die Reise war, doch die Antwort darauf wollte so gut wie niemand hören. War es Neid? Desinteresse? Oder fehlte dafĂŒr einfach die Zeit in unserer gestressten Gesellschaft? Und dann ist da noch die Erwartungshaltung! Jeder hat eine bestimmte Vorstellung von allem und wer diese nicht erfĂŒllt, hat sowieso verloren. Keine Spur von Gelassenheit.
Dinge, die in anderen LĂ€ndern einfach hingenommen werden, wie wenn ein Bus erst dann losfĂ€hrt, sobald er auch wirklich voll ist, sind hier kaum vorstellbar. Beschweren tut sich am anderen Ende der Welt darĂŒber niemand. Und wenn diese ganze Prozedur auch mal 2-3 Stunden dauert, dann ist es eben so! Davon geht die Welt schlieĂlich nicht unter. Doch wehe hier in Deutschland hat der Zug auch nur eine Minute VerspĂ€tung – dann ist das ein Drama!
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der zu erwartende Kulturschock nach unserer RĂŒckkehr 2025 noch deutlich intensiver sein.
**********
Und Natalie?
Jetzt habe ich mit euch viel von meiner Motivation und GemĂŒtslage vor, wĂ€hrend und nach meinen Reisen geteilt ⊠worauf ich aber wirklich gespannt bin, ist die Antwort auf die Frage, wie es Natalie mit all dem geht, wie sie alle diese Erfahrungen wahrnehmen wird, was diese mit ihr machen und wie sie sie formen und verĂ€ndern werden. DarĂŒber wird sie euch sicher zu gegebener Zeit mit auf ihre ganz persönliche Reise nehmen âŠ
Und eins verspreche ich euch abschlieĂend! Wir werden mit offenen Augen und Ohren durch SĂŒdamerika reisen. Dies wird nicht der letzte kritische Blog-Beitrag bleiben. Dort, wo es gilt, Dinge, die wir sehen, hören oder erleben kritisch zu wĂŒrdigen, werden wir dies tun. Das betrifft auch unser Nomadenleben im Wohnmobil selber. Denn sicher wird unsere Reise nicht nur zuckersĂŒĂ, sondern gelegentlich auch so sauer, wie der BiĂ in eine unreife Zitrone sein.
So what, thatâs life!